Familiengeschichte samt Pionier-DNA

Skifahren und Snowboarden im Glarnerland ist sozusagen Kulturgut, oder gar in denGenen: Das erste Skirennen der Schweiz fand in Glarus statt – der Stadt mit der ersten Skifabrik und dem ersten Skiclub. Gut hundert Jahre später revolutioniert der Braunwalder Hansjürg Kessler die Carving-Skier mit seiner eigenen Technologie, nachdem seine Snowboards schon einige olympische Medaillen heimbrachten. Eine Spurensuche.

TEXT Delia Landolt BILDER Maya Rhyner

«Sag ja niemandem, dass dein Vater und deine Mutter Skilehrer sind!», rieten die Eltern ihrem Sohn Hansjürg Kessler, der im Winter lieber rodelte und Schneeburgen baute. Das war sein Ding, aber Skifahren? Auch wenn er schon mit drei Jahren auf den Brettern stand, richtig gelernt hat er es erst etwa sieben Winter später. So wurde aus dem Braunwalder schliesslich doch noch ein Skilehrer und Technischer Leiter der Skischule Braunwald, doch sein eigentliches Sportgerät wartete erst noch auf ihn: Im August 1985 bekam Hansjürg Kessler die Einladung, auf dem Laaxer Gletscher erstmals ein Snowboard aus Amerika zu testen. Kessler wurde – im Vergleich zum Skifahren – schnell gut, war aber mit der Performance des Bretts nicht zufrieden. Das Board hatte noch Finnen, was im Schnee nicht unbedingt ein Vorteil war. Da meldete sich wohl sein Pionier-Instinkt, vermischte sich mit dem Vorwissen des Skilehrers, sodass der Tüftler wusste: Das konnte er besser.

Iselin, der Spinner

Gut 90 Jahre früher, 1892, kam die Inspiration zum Schneesport aus Norwegen. Damals war es SAC-Mitglied Christof Iselin, der nach der Lektüre «Auf Schneeschuhen durch Grönland» dieses neue, noch namenlose Gerät ausprobieren wollte und sich eines anfertigte. Um nicht als Spinner angesehen zu werden, ging der Ski-Pionier nachts auf Testfahrten, doch sein eigener Ski überzeugte ihn nicht. Iselin liess sich von befreundeten Norwegern drei Paar Skier bringen. Darauf nahm er seine SAC-Kollegen mit auf eine erste Skitour auf den Schilt und gründete mit ihnen den ersten Skiclub der Schweiz.

Kaputt und dennoch besser

Die Situation mit dem Snowboard war nicht unähnlich. Im Winter 1985/86 war genau ein Snowboard in Braunwald und eines in Elm verfügbar. Doch die neue Sportart hatte Hansjürg Kessler gepackt: «Mich faszinierte das Carven und die damit verbundene Fliehkraft und Schräglage. Durch diese verändert sich der Fokus der Wahrnehmung.» Hansjürg machte sich ans Tüfteln und testete 1988 erstmals sein eigenes Brett.

«Sag ja niemandem, dass dein Vater und deine Mutter Skilehrer sind!»

Schon in den Startlöchern, liess er es in den Flumserbergen auf dem Parkplatz in den Schnee fallen, worauf es gleich auseinanderfiel. In einem Sportgeschäft nietete er es wieder zusammen: «Das Brett war zwar von Beginn an kaputt, aber besser als alle, die ich bis anhin ausprobiert hatte.»

Sprungkonkurrenz und Pragellauf

Im Skiclub Glarus fand sich mit Melchior Jakober ein Schreiner, der sich an die Ski- Fabrikation machte und schon in der ersten Saison 70 Paar verkaufte. Mit der neuen Sportart wurde auch der Wettkampfgeist geweckt, und die Glarner Pioniere veranstalteten im Januar 1902 das erste Skirennen der Schweiz, einen Monat vor den Bernern. Im folgenden Winter wollten sie dieses Rennen toppen und planten eine Sprungkonkurrenz sowie eine Skitour über den Pragelpass. Da die Organisatoren gute drei Stunden für den 25-Kilometer-Lauf rechneten, sassen sie noch im Hotel Glarnerhof, als der erste Läufer schon übers Ziel hinaus war und ihnen auf der Strasse entgegenkam.

Ski-Revolution

Auch andere waren begeistert von Hansjürg Kesslers Brettern: 1993, gut sechs Jahre nach seiner ersten Fahrt in den Flumserbergen, verkaufte er schon 100 Bretter pro Jahr. Doch richtig bekannt wurden die Kessler Boards, als Philipp Schoch mit einem davon an den Olympischen Spielen von 2002 auf den ersten Platz fuhr. Dank Kesslers spezieller Technik waren die Boards steifer und damit auf harten Pisten griffiger. Von da an reichte ein Hals nicht mehr, um alle Kessler-Medaillen zu tragen. Einen weiteren Durchbruch schaffte Hansjürg, indem er auch gleich die Carving-Skier revolutionierte. Seine Skier mit der Kessler Shape Technology verfügen über verschiedene Radien, womit sich der Ski flexibel dem Fahrstil anpasst. Die Formgebung seiner Skier sollte «möglichst fehlerverzeihend sein und dennoch eine gute Performance aufweisen». Doch sein Geheimnis liegt wohl anderswo: Die Tüftler-Werkstatt in Braunwald liegt nur wenige Minuten von der nächsten Testfahrt entfernt. Oder drückte hier einfach die Glarner Pionier-DNA durch?

Mehr Infos zu Hansjürg Kessler sind im Porträtbuch «Föhnsturm» zu finden.

Kessler-Ski- und Snowboard-Testtage jeweils im Dezember und Januar in Elm und Braunwald.