Erzähl doch keine Märchen – auf Geschichten-Suche durchs Glarnerland
Sagenhaftes, eine Zeitreise samt einem Schatz – auf der Suche nach Geschichten für die kleinen Gäste des Märchenhotels schickt die Braunwalder Märchen-Fee ihr Lama Montana los, auf in ein Abenteuer quer durch die Geschichte(n) des Glarnerlands.
TEXT Delia Landolt BILDER Maya Rhyner

Es ist verzwickt; jeden Abend eine andere Geschichte, das ganze Jahr über. Die Märchen-Fee seufzt, ist etwas ratlos und schaut vom Märchenhotel aus über das grasgrüne Braunwald, runter ins Tal und an den mächtigen Tödi heran. Sie kommt kaum dazu, neue Geschichten zu spinnen, denn es ist immer viel los. Was sollte sie tun?
Wie Heidelbeeren
Ihre Gedanken werden vom begeisterten Erzählen ihrer beiden Töchter unterbrochen. «Weisch was hämmer hüt alles im Wald erläbt?» Vor lauter Eifer sprechen die beiden wild durcheinander. Da hat die Märchen-Fee die rettende Idee: «Da draussen warten so viele Geschichten, man muss sie nur pflücken gehen wie frische Heidelbeeren!» No Prob-lama! «Schick doch einfach unser Lama Montana los», schlagen die Kinder vor. Die Märchen-Fee ist begeistert, rennt die Treppen des Hotels herunter, wo das Lama schon mit gepacktem Rucksack grinsend bereitsteht: «Ich habe was von Abenteuer gehört!»
Kneippen mit Charly
Raus ins weite Glarnerland, das war schon lange ein Traum von Lama Montana. Und es hat gehört, ennet dem Freiberg Kärpf, im Kleintal, dort lebten noch andere seiner Art. Also macht es sich gleich in diese Richtung auf. Es wackelt gemütlich nach Schwanden und nimmt dort im Kies die Luftseilbahn auf die Mettmen-Alp. Oben beobachtet es die Fischer am Garichtisee, die ihren Gedanken nachhängen. «Bist du die Abenteurerin aus Braunwald?», blökt ihm Geissbock Charly entgegen. Der Geruch hat ihn längst verraten. «Dann zeig ich dir jetzt mal was Verrücktes!» Charly stolziert davon, Montana stolpert hinterher durch den Wyssbach, über spitze Steine, feuchtes Moos, und kaum ist der kurze Kneipp durch, hält der Geissbock abrupt an: «Achtung! Keinen Schritt weiter!» Das Lama schaut verwundert umher: Vor ihm liegt nichts als eine sumpfige Wiese.
Im Bann des Sonnentaus
«Fast wärst du gefressen worden!», grinst der Geissbock gewitzt. Da entdeckt das Lama die seltsame Blume vor seinen Hufen. Die runden, langgestielten Blätter sind bedeckt mit kleinen roten Tentakeln. An jedem Tentakel befindet sich ein kleines, glitzerndes Tröpfchen. «Das ist ein Sonnentau – lass dich ja nicht von dem glitzernden Schleim verführen!», warnt Charly. Montana lacht kurz auf, doch gerade begeht eine Fliege genau diesen Fehler. Augenblicklich bleibt sie an der Pflanze kleben. «Jetzt erstickt die Fliege und der
Sonnentau kann alle Nährstoffe aus ihr heraussaugen», meint Charly. «Wieso macht diese Pflanze sowas?», fragt Montana erstaunt.
Weltgeschichte im Moor
«Wir befinden uns im Hochmoor auf Mettmen, eines der wenigen im Glarnerland. Pro Jahr wächst das Moor um einen Millimeter. Sprich: Das hier sind 2000 Jahre konservierte Weltgeschichte», erklärt der Geissbock, das Lama staunt – zwei Meter tief ist dieses Moor an der dicksten Stelle, das ist alles andere als eine sumpfige Wiese! «Weil das
Moor aus lediglich viel Nässe und abgestorbenen Pflanzen besteht, musste sich der Sonnentau etwas überlegen, um an Nährstoffe zu kommen», fährt der Geissbock fort. «Als Gegenleistung hilft sie bei Husten. Früher wurde sie gesammelt, heute ist sie aber geschützt.»
Bauklötze und ein Käseloch
«Kann mir der Sonnentau auch helfen, das Martinsloch und meine Artgenossen zu finden?», fragt Montana begeistert. «Nein, aber ich», lacht Charly und begleitet es auf dem langen Weg Richtung Wildmad. Zuoberst angekommen, tut sich ihnen ein komplett neues Panorama auf. Da sind sie, als wären sie wie Bauklötze angeordnet worden: Die Tschingelhörner, die das käsestück-förmige Martinsloch umrahmen. Fasziniert vom Felsenfenster will das Lama näher ran, stolpert runter Richtung Elm, direkt zum Chüebodensee. Das kleine Bergseelein glitzert dem Lama verführerisch entgegen. Ohne zu zögern hüpft es hinein, taucht unter und denkt sich dabei: «Wäre ich doch schon im Tal!»
Matrose am Gäsistrand
Als Montana wieder auftaucht, hat sie senkrechte Felswände vor sich. Ein prächtiger Bach lässt sich über drei Stufen an ihnen hinabfallen. Das Lama setzt sich ans sandige Ufer und schaut verwirrt umher. Das ist bestimmt nicht das Kleintal, hier kommen fjordartig Berg und See, Sand und Strand zusammen. «Na, gefällt dir der Walensee mit seinen Churfirsten und den Seerenbachfällen? Wir sind hier im Norden des Glarnerlands, am Gäsistrand», sagt eine Stimme. Leichte Wellen schwappen an den Strand, verursacht vom Kursschiff, das gemächlich vorbeituckert. Das Lama dreht sich um, neben ihm hat es sich ein altmodisch, aber edel gekleideter Mann im Sand gemütlich gemacht: «Was wir hier vor uns haben, war früher eine wichtige Handelsroute. Die Strecke Zürich – Walenstadt habe ich als Herr über das 30-Meter-Schiff wohl tausendmal zurückgelegt.»
Mit 36 Pferdestärken flussaufwärts
Der Handelsmann erzählt eifrig weiter: «Von Zürich kam Getreide und Wein, aus Walenstadt Salz, Rohbaumwolle und Bündner Wein. Im Walensee wurde gerudert und mit einem Segel nachgeholfen. Linth-abwärts ging es auch wunderbar, aufwärts wurde mit Pferden gereckt.» Die Aufmerksamkeit des Lamas war geweckt: «Was heisst denn recken?» Zufrieden lächelnd über das Interesse des Lamas führt der Handelsmann fort: «Um denWiderstand der Strömung zu überwinden, mussten die Schiffe vom Ufer aus flussaufwärts mit Pferden gezogen werden. Im Jahr 1603 legten Zürich, Schwyz und Glarus gemeinsam fest, dass an den Linth-Ufern jederzeit 36 starke Pferde bereit sein mussten.» Das Lama staunt und fragt: «Hast du noch mehr solcher Geschichten?» «Ja klar», erwidert der Handelsmann freudig, «komm mit!» Ungefragt zieht er Montana mit sich und taucht mit ihr ab.
Schatzkiste im Bergsee
Pitschnass blickt das Lama am Glärnischmassiv hoch zum Vrenelisgärtli. «So habe ich mir meine Geschichten-Suche nicht vorgestellt», schlottert es. Vom Handelsmann keine Spur mehr. Dafür hallt eine andere, laute Stimme durchs Klöntal: «Wir bleiben wohl stecken zwischen diesen Bergen. Dass uns der Feind nur nicht die Kasse entwendet! Das Beste wäre, wir werfen sie in den See. Der kann sie bewachen, bis wir wiederkommen!» Eine unglaubliche Parade an lumpigen Männern zieht am Lama vorbei, das sich hinter einen Stein duckt. So viele, dass es nicht einmal deren Schlussmann sieht. Doch den schmächtigen Mann auf dem mächtigen Pferd erkennt es sofort: Das muss General Suworow sein, der 1799 über den Pragelpass ins Glarnerland zog. Es schaut zu, wie einige Männer eine schwere Kiste mit sieben Schlössern vom Pferd binden und in den Klöntalersee werfen. Das Lama will nicht dabei sein, wenn Suworows Männer auf die Franzosen treffen, springt deshalb dem Schatz hinterher und wünscht sich an einen wohligeren Ort – schliesslich ist Sommer! «Am liebsten zurück nach Hause», denkt sich Montana, bevor sie wieder auftaucht.
Das Rätsel um den Abfluss
«Hier solltest du besser nicht schwimmen!», sagt erschrocken ein kleiner Geiss-Hirt, kaum hat das Lama Luft geschnappt. Es muss nicht einmal gross herumschauen und weiss schon, wo es gelandet ist: «Der Oberblegisee!» «Ja, richtig, aber du kennst wohl die Tücken dieser Perle nicht», meint der junge Knabe wieder. Natürlich kennt Montana die Sage des Oberblegisees, in welcher der Geisser beim Versuch einer Überquerung ertrank. Zur selben Zeit holte seine Mutter am Leuggelbach Wasser, als ihr der Kopf ihres Sohnes entgegensprang. Das Lama glaubt nicht an diese Sagen – trotzdem ist es auch ihm
ein Rätsel, wo sich der Abfluss des Bergsees befindet. Doch das soll heute nicht sein Problem sein. Den Rucksack gefüllt mit Geschichten winkt Montana dem Geisser zum Abschied und macht sich über den gemütlichen Wanderweg zurück – zur Märchen-Fee. Wenn es wüsste, dass seine Lama-Artgenossen aus dem Kleintal auch schon da warten, wäre es wohl gerannt.