Vom Schellnen zum Umzug
Abgesehen von der Näfelser Fahrt und der Landsgemeinde ist das Klausschellen wohl jener Glarner Brauch, der am häufigsten beschrieben wurde. Gefeiert wurde er aber nicht am 6. Dezember, sondern jeweils am ersten Dienstag im Dezember in Anlehnung an den an diesem Tag in Glarus stattfindenden Klausmarkt. Dieser wiederum richtete sich merkwürdigerweise nach dem Namenstag des Heiligen Andreas (30. November). Aufgabe der Jugend war es, die Ankunft des Samichlaus mit Kuhhörnern und Glockengeläut anzukündigen oder eben einzuschellen. Dazu liehen sich die Knaben oft schon Wochen zuvor bei den Bauern Kuhglocken und Schellen aus, was einiges Händlergeschick verlangte. Wer keine Schelle ergattern konnte, trug eine Fackel, andere behalfen sich mit Pfannendeckeln.
Damit ausgerüstet, zogen sie, wie der Stadtglarner Pfarrer Ernst Buss um 1900 beschreibt, in Grüppchen durch die Strassen von Glarus: «Das Dröhnen, Bimmeln und Muhen aber, etliche Stunden unaufhörlich fortgesetzt, vereinigt sich mit dem Geschrei der Knabenstimmen zu einem Konzert der fürchterlichsten Art, zu einem wahren Höllenspektakel und Heidenlärm, wie ihn unsere Vorfahren bei ihren Opferfeuern kaum ärger verführen konnten.» Während also die jüngeren Knaben ihr «Höllenspektakel» auf führten, zogen die älteren mit einem weissen Hemd als Bischöfe verkleidet und einer aus Karton gefertigten rohrförmigen Mitra oder «Iffele» auf dem Kopf, in deren Inneren eine Kerze brannte, von Haus zu Haus. Mit Sprüchen wie den beiden nachfolgenden baten sie um kleine Gaben:
«Guete-n-Abed, ihr Herä und Fraue!
Da chänder ä schüüne Samichlaus gschaue.
Er isch au gaar ä-n-arme Ma;
Drum sött er au es Räppli ha.
Das Chlausne isch e-n-alti Sitte;
Drum hät me’s immer gääre glitte.
Es Gäbli us üüere Hände
Weiss dr Chlaus gar guet z’verwände.»
Auf diese Weise kamen die Kinder aus ärmlichen Verhältnissen zu einem Samichlausgeschenk. Vermögende dagegen bestellten den Samichlaus zu sich nach Hause, wo er nach der obligaten Ermahnung der Kinder aus seinem Sack Nüsse, Äpfel, Lebkuchen und Spielzeug hervorzauberte. Weihnachtsgeschenke kannte man um 1900 erst in den Gemeinden um Glarus. Im Grosstal (Schwanden–Linthal) war die Samichlausbescherung der einzige Geschenktermin des zu Ende gehenden Jahres.
Jedes Dorf seinen Brauch
Trotz glarnerischer Kleinräumigkeit entwickelte beinahe jedes Dorf seine eigene, spezielle Organisationsform. Im einen hielten sich die nach Quartieren gruppierten Umzüge, im anderen formierte sich unter der Ägide der Lehrerschaft oder der Oberstufenschüler ein gemeinsamer, koordinierter Umzug. Vorneweg marschierten die älteren Knaben mit den schwersten und grössten Schellen oder mit Hörnern, dahinter reihten sich die jüngeren ein. Der Gruppe voraus lief ein Schüler mit einer Laterne, später einer Stablampe, um die entgegenkommenden Autolenker auf die Schellner aufmerksam zu machen. Unterschiede gab es um 1970 auch bezüglich Dauer und Tageszeit. Je nach Gemeinde dauerte das Klausschellen ein oder mehrere Tage, und während im Glarner Hinterland das Klausschellen jeweils bei Tagesanbruch, meist ab 5 oder 6 Uhr, begann, machten sich die Kinder aus Matt, Engi, Ennenda, Glarus, Netstal, Filzbach oder Obstalden erst beim Eindunkeln auf den Weg. Um Gaben gebettelt wurde etwa beim Bäcker, Metzger, Pfarrer, Lehrer, Gemeindepräsident, beim Wirt und bei den sogenannten «Herrenhäusern», den Fabrikanten. Jedes Kind hatte sein «Chlaussäckli» umgehängt, in dem es seine «Beute» verstaute. Gelegentlich arteten solche Betteltouren aber aus: Gerade in den Wirtshäusern erwarteten die Schellner nicht etwa Nüsse, Äpfel und Mandarinen, sondern möglichst Bares. Dies hatte zur Folge, dass einzelne Gemeinden den Wirtshausbettel verboten. Inzwischen ist auch das «Betteln» bei Privaten im Mittelland grösstenteils verschwunden.
Mit Kuhhörnern, Laternen und Iffelen
Örtliche Verkehrsvereine haben das Sammeln von Spenden übernommen und sie sind es auch, welche die Gaben vorgängig in «Chlaussäckli» abfüllen. Somit wird sichergestellt, dass jedes Kind gleich viel erhält. Das einst mehrtägige Klausschellen wurde in den Dörfern der Gemeinde Glarus auf einen einmaligen Klausumzug reduziert, dem Kindergärtler und Primarschüler mit Schellen, Kuhhörnern oder selbstgebastelten Laternen, und Oberstufenschüler mit Fackeln, «Iffelen» oder Treicheln angehören.
Mit Lichterhäuschen und einer Schar Fackelträger durch Glarus
Den imposantesten Umzug erlebt am Montag vor Klaustag der Hauptort, wo sich kurz vor 18 Uhr die Teilnehmer mit ihren «Instrumenten» auf dem Zaunplatz besammeln. Pünktlich um 18.15 Uhr wird die Strassenbeleuchtung gelöscht und die erste Gruppe – die Trychler – stellen sich an die Spitze des Umzuges, gefolgt von einer rund 30-köpfigen Schar Fackelträger. Ihnen folgen die verschiedenen Schulklassen mit ihren Laternen, darunter einige kleine Kunstwerke, welche man gerne von Nahem bestaunen möchte. Auch die sogenannten Klauswagen, auf denen Lichterhäuschen mitgeführt werden, dürfen nicht fehlen. Seit einigen Jahren sind auch die schon bei Buss genannten Lärminstrumente wie Kuhhörner und anderes wieder in Gebrauch. Den Abschluss des Umzuges bildet wiederum eine Gruppe Fackelträger.
Die Eigenarten von Glarus Nord
In den Dörfern Mollis, Näfels und Niederurnen, in denen früher ausschliesslich das Silvesterschellen gepflegt wurde, sind heute auch die sogenannten Klauseinzüge gebräuchlich, die von Verkehrsvereinen, Klausvereinigungen oder Dorfkommissionen organisiert werden. Auf dem Kerenzerberg hingegen konnte sich das Klausschellen bis heute halten. Getreu ihrer Tradition ziehen die Buben der 5. und 6. Klasse mit ihren Schellen um den Thomastag durch Filzbach und läuten den Winter ein. Mädchen sind nach wie vor nicht zugelassen.
In Obstalden dagegen schon. Hier findet das Schellnen jeweils am Samstag vor dem Klaustag statt. Die Organisation liegt bei den Schülerinnen und Schülern der 9. Klasse, welche die «Schellner-Chefs» stellen. Sie erstellen die Schellner-Liste, in die jedes Kind, das teilnehmen möchte, sich eintragen kann. Um 17 Uhr besammeln sich alle Teilnehmer bei den Schulhäusern. Einige bringen ihre eigene Glocke mit, andere erhalten die von den Chefs organisierte. In zwei Gruppen aufgeteilt, von denen jede ihren eigenen Samichlaus mitführt, ziehen die Schellner von Haus zu Haus. Still pirschen sie sich heran, um auf das Kommando des Samichlaus gleichzeitig ihre Glocken zu schwingen und den Hausbewohnern lautstark ihre Anwesenheit zu verkünden. Kein Haus entgeht ihnen, und da selbst abgelegene Weiler besucht werden, dauert das Schellnen gegen fünf Stunden. Gegen 23 Uhr treffen sich die beiden Gruppen wieder in der Schulhausküche, wo sie von einigen Eltern mit heissen Wienerli verpflegt werden. Die gespendeten Mandarinen, Schokolade und Nüssli werden fair verteilt, einen Teil der Geldspenden erhalten die Chefs als Taschengeld, ein Teil kommt seit mehreren Jahrzehnten einem guten Zweck zu.
Beaufsichtigst von Sechstklässlern oder Lehrpersonen
Eine gewisse archaische Urtümlichkeit bewahrt hat auch das Schellnen im Grosstal, wo es bis in die 1960er-Jahre eine ausgesprochene Bubensache blieb. Es sind vorwiegend die Primarschülerinnen und -schüler unterwegs: Die frühmorgendlichen Touren durch die Dörfer wären für die Kindergärtler zu anstrengend. Die eigentliche Organisation des Klausschellens, Routenwahl, Erstellen der Spenderliste, Aufsicht über die Schellner, obliegt jeweils den Sechstklässlern, die von einem aus ihren Reihen gewählten «Chef», seltener einer «Chefin», angeführt werden. In Schwanden dagegen ziehen jene aus dem «Thon» und jene aus dem «Dorf» jeweils gesondert und beaufsichtigt von einer Lehrperson morgens ab 6 Uhr durch die Strassen, am Nachmittag sind es die Kindergärtler unter der Obhut von zwei Sechstklässlern. Am ersten Montag im Dezember vereinigen sie sich auf dem alten Feuerwehrplatz zu einem gemeinsamen Umzug von bis zu 120 Kindern und kündigen sich mit Geläut und «Hee-Rufen» bei Privaten und beim Altersheim an. Tags darauf wird bei den Geschäftsleuten «gebettelt».
Die Bilder und Texte aus dem Buch «Lebendiges Glarnerland» über Glarner Bräuche, Feste und Traditionen wurden freundlicherweise vom Baeschlin Verlag zur Verfügung gestellt. Geschrieben wurden sie von Susanne Peter-Kubli und fotografiert von Sasi Subramaniam. Vielen Dank!