Drahtseilakt am Eggstock

In Braunwald wurde vor 20 Jahren einer der ersten Klettersteige der Schweiz als Abenteuer in drei Schwierigkeiten angelegt. Bis heute hat er nichts von seiner Attraktivität eingebüsst.

TEXT Dominik Prantl BILDER Nico Schaerer

Da ist man noch gar nicht in diese Via Ferrata eingestiegen, und schon ist das gesamte Vokabular aus dem Anfängerkurs für Bergpoesie aufgebraucht: Der Weg vom Bergrestaurant Gumen führte über eine Alpwiese mit – ach, natürlich – herrlich duftenden Knabenkräutern, Vergissmeinnicht und Bergthymian.
Unterhalb des Felsens gibt es dann die volle Kli- scheekeule, weil der Blick über Tschingelhörner, Vrenelisgärtli und Tödi mit ihren mehr oder weniger stark angezuckerten Gipfeln einem den Atem raubt. Und schon beim ersten Griff ins Stahlseil weiss man, dass es ein grossartiger Balanceakt am Fels werden wird. Im Comic würde das – Alpwiese, Aussicht, Drahtseilakt – ungefähr so aussehen: Boah! Krass! Uff!

Aus dem Winterschlaf geholt
Vielleicht muss man in diese Geschichte ohnehin etwas früher einsteigen, nicht erst mit der Blütenorgie am Gumengrat unterhalb des Leitereggstocks auf rund 2100 Metern Höhe. Nicht in der Quersitz- Sesselbahn zum Gumen, die einen aussichtsreich bis auf 1900 Meter gondelt. Und auch nicht im autofreien Kurort Braunwald auf 1250 Metern, sondern im vergangenen Jahrtausend.
1907 wurde die Eröffnung der Braunwaldbahn gefeiert, wie auch die des «Grand Hotel», dem heutigen Märchenhotel Braunwald. Weitere Herber- gen und Pensionen folgten, viele davon stehen heute noch. Mit dem Skibetrieb in Form eines Funi- Schlittens bekam 1928 das bisherige Bauerndörfchen und der Kurort Braunwald touristischen Aufschwung. Auch wenn die Infrastruktur laufend er- weitert wurde, war es für Ruedi Jenni kein Leichtes, als er in den Neunzigerjahren mit der Idee kam, die Eggstöcke «aus dem Winterschlaf zu holen», wie er das noch heute nennt.

Zunehmende Schwierigkeiten
Jenni ist vor einigen Monaten in Pension gegangen, nach zwei Jahrzehnten im Sportamt des Kantons Glarus. Zuvor war er als Bergführer und Skilehrer selber auf das Angebot der umliegenden Berge angewiesen. Er wusste natürlich um die Tradition der Eggstöcke als Klettergebiet Mitte des 20. Jahrhunderts, und er trieb deren Neuerschliessung voran.
Auf seine Idee, zuerst Kletterrouten und einen Klettergarten einzurichten und schliesslich das Massiv noch mit einem Klettersteig zu verkabeln, reagierten die meisten Zeitgenossen allerdings nur mässig begeistert. Die einen lachten, die anderen zürnten, und wie- der andere schwiegen. «Die Leute hier sind sehr konservativ», sagt Jenni. Und als endlich die meisten Skeptiker überzeugt waren, zog sich der Bau noch einmal drei Sommer lang hin. «So lange haben wir gebraucht, um alles Geld zu sammeln.»

Viel Eisen für den Einstieg
Heute ist der erste von drei Teilen des Klettersteigs zwei Jahrzehnte alt. Er ist damit einer der ältesten Sportkletter- steige der Schweiz; erst 1993 war mit dem Tällisteig der erste eidgenössische Eisenweg moderner Prägung angelegt worden. Dennoch hat der Braunwalder Steig (wie auch der Tällisteig) nichts von seiner Attraktivität eingebüsst.
Die erste Sektion enthält vielleicht et- was viel Eisen, eignet sich dafür aber besonders gut als Einstieg für Anfänger. In nur einer Stunde wird jedem Lehrling eine solide Ahnung davon vermittelt, was die Schwierigkeitsstufe C bedeutet: aus- gesetzt sein, ohne sich verloren zu fühlen. Knapp vor dem anschliessenden zweiten Felsriegel besteht erstmals die Möglichkeit, aus dem Klettersteig auszusteigen.
Jenni sagt dazu: «Es war von Anfang an so geplant gewesen, wie es jetzt ist.» Mit anderen Worten: Es gibt eine sukzessive Steigerung der Schwierigkeiten, und da- zwischen liegen zwei Abstiegsmöglichkeiten. Dadurch ergeben sich auf dem her- vorragend abgesicherten Eisenweg drei Rundgangsoptionen mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden und Längen.
Klettersteige geniessen überall in den Alpen einen guten Ruf als touristische Entwicklungshelfer, bieten sie doch trittsicheren und schwindelfreien Wanderern die Möglichkeit, mit relativ geringem Lernaufwand jene senkrechte Bergwelt kennenzulernen, die sonst nur Kletterern vorbehalten ist.

Aus dem Winterschlaf geholt
Heute ziehen die Steige in Braunwald an guten Tagen bis zu 300 Leute an. Manchmal müssen diese laut Jenni sogar stundenlang am Einstieg warten – dies ist die Schattenseite des Booms. Im letzten Sommer ist deshalb im unteren Bereich bereits eine zweite Linie als eine Art Überholspur (K5) eingerichtet worden. In der zweiten Sektion warten auf die Begeher eine Leiter, eine Querung und ein Steilaufschwung – alles nicht schwieriger als der erste Teil, nur etwas ausgesetzter, eisenärmer und damit schöner. Im Blickfeld auf der einen Seite wieder Vrenelisgärtli, auf der anderen Tschingelhörner und Tödi. Nach dem ersten Gipfel, dem Vorderen Eggstock (2449 m), geht es bald über die Charlotte-Brücke hinweg, die eher Statiker und Ingenieure als Klettersteigpuristen begeistert. Gefolgt wird sie von einer Gratwanderung mit Stahlseilbegleitung hinüber zur markanten Felsformation des Mittleren Eggstocks (2436 m).

Sicher durch die Trilogie
Vor diesem sonnigen Julimittwoch haben schon einige andere Klettersteiggeher das Gipfelbuch in der Hand gehabt und Einträge hinterlassen. Es ist voller Texte in Italienisch, Französisch, Portugiesisch, Englisch und Schwiizerdütsch. Klettersteiggehen – das ist ganz offen sichtlich – hat längst die Mitte der Berggesellschaft erreicht.
Trotzdem heisst es achtsam sein: Gerade zu Beginn habe es tödliche Unfälle gegeben, «viele gingen komplett ungesichert», sagt Jenni. Mittlerweile hat es sich unter Vertikalwanderern aber herumgesprochen, dass Helm, Gurt und ein Klettersteigset zu den unverzichtbaren Begleitern auf Eisenwegen gehören.
Einen Sturz ins Seil gilt es am Kletter- steig ohnehin absolut zu vermeiden, da er häufig mit schweren Verletzungen einhergeht. Das grössere Thema ist laut SAC auf den Klettersteigen eine sogenannte Blockierung. In diesem Fall ist der Bergsportler körperlich unversehrt, kommt aber weder vor noch zurück – ein klares Indiz für eine schwere Überforderung.
Eine solche Blockierungsfalle enthält auch dieser Steig: Wer sich auf Höhe der biwakartigen Göggihütte am Mittleren Eggstock unsicher fühlt, sollte unbedingt die nur wenige Meter später folgende Abstiegsmöglichkeit nützen. Denn der folgende dritte und letzte Abschnitt der Trilogie steht stellvertretend für viele Sport- klettersteige modernster Prägung.

Steiles Finale
Es gilt hier eindeutig: Uff! Senkrecht bergauf geht es über den Grossteil der 80 noch zu erkletternden und mit D/E als sehr schwierig bewerteten Höhenmeter, an einigen der Sprossen sogar über- hängend. Es rinnt der Schweiss trotz des Schattens, es zieht im Bizeps, die Unterarmmuskulatur wird langsam hart. Wegen dieses Finales steht in dem Faltblatt zum Braunwalder Klettersteig unterhalb mehrerer Anti-Blockierungs-Ratschläge der Satz: «Falls es trotz oben erwähnter Massnahmen mit Ausruhen und Lockern nicht mehr weitergeht, ist um Hilfe zu rufen.»

Im Gipfelbuch am Hinteren Eggstock finden sich an diesem Tag erst vier Ein- träge. Und viele werden heute nicht mehr dazukommen. Offenbar wissen die Menschen mittlerweile ziemlich genau, wann man bei einem Klettersteig mit mehreren Abstiegsoptionen aufhören sollte: Wenn es am schönsten ist.