Vom Meissäbodä-Anni und dem Jüppä-Frigg

Dort wo jeder jeden kennt, dort heissen auch alle gleich. Um bei einem Kennenlernen das Gegenüber einzuordnen, fragt man: «Ja, vu welnä Tschudis, Martis oder Heftis dä?» Für die Antwort muss man gewappnet sein – denn ohne Spitznamen kommt im Glarnerland fast niemand aus.

TEXT Delia Landolt BILDER Maya Rhyner

Angefangen zuhinterst im Tal, in der Sackgasse Elm: Beinahe die Hälfte derDorf-Bevölkerung teilt sich die drei gleichen Nachnamen – Elmer, Rhyner und Freitag – wie Daten der Post verraten. Und dies nicht erst seit gestern: Wer die über 500-jährige Kirche in Elm besucht, entdeckt über dem Chor drei Glasfenster mit den Namenswappen Elmer, Freitag und Zentner. Seit Christoph Kolumbus Amerika entdeckt hat und sich Leonardo Da Vinci die ersten Flugapparate ausdachte, hat sich in Elm lediglich ein Name in der Besten-Liste verändert.

Vier Annas in einer Klasse

Zur – wohlwollend gemeint – prekären Nachnamens-Situation in Elm kam gleichzeitig eine karge Vornamens-Landschaft. Was daraus entstand, war jedoch keinesfalls öde: Früher pflegte man die weit verbreitete Tradition, die Kinder nach ihren engen Familienangehörigen zu taufen. So kam es, dass 1956 in der Primarschule Elm von acht
Mädchen einer Klasse vier Anna hiessen, drei davon mit Nachname Rhyner, eine Marti. Um sie zu unterscheiden, wurden ihnen die Flurnamen ihres Heimets angehängt: Bahnhof-Anni, Sandgass-Anni, Wald-Anni und Meissäbodä-Anni. Letztere, Anni Brühwiler, ist heute 67 Jahre alt und macht Dorfführungen durch Elm. Sie erzählt von Suworow, Strickhäusern, dem Schieferabbau und erinnert sich: «Diese Übernamen waren nicht wertend, es störte sich niemand daran. Schliesslich musste man einfach wissen, von wem man sprach.» Zwar wohnt sie heute nicht mehr im Meissenboden, doch der Name ist geblieben. Bis heute sind in Elm diese Namen zu hören, wenn auch eher in den älteren Generationen.

Dr Läng und dr Churz

Ein weiteres Beispiel zeigt, wie die Namens- Öde zu wahrer Kreativität geführt hat: Äusserlichkeiten, Aussergewöhnliches oder manchmal sogar typische Unarten wurden genutzt, um einander eindeutig-mehrdeutig zu benennen. Natürlich nur in dessen oder deren Abwesenheit. Ein Beispiel aus Matt: Hier lebten einmal zwei Bauern, beide Viehhändler. Weil einer eher gross, der andere eher klein gewachsen war, wurden sie schlicht dr Läng und dr Churz genannt. Spitznamen waren etwas Persönliches, weshalb an dieser Stelle keine weiteren genannt werden. Ausser vielleicht dem vom Jüppä-Frigg, dem Heiligen St. Fridolin, Schutzpatron des Kantons Glarus.

Rosstääpä, Müü und Waldrappä

Das Namens-Spektakel ging umhin weit über Einzelpersonen hinaus. Anfang des 20. Jahrhunderts hatte jede Gemeinde einen Spitznamen. Damals waren die Lebensradien der Leute kleiner als heute, so klein, dass die Gemeinden sich als Konkurrenten sahen und dies in Spitznamen zum Ausdruck brachten. Was wir heute als «Mobiliät» bezeichnen, beschränkte sich damals auf die Distanzen, die einen die Füsse zu tragen vermochten: Wer wohlhabend war, besass ein Pferd, wie so viele Molliser, die beneidend Rosstääpä genannt wurden. Die Sooler wurden als Müü, Monde, bezeichnet. Sie hätten versucht, nachts den gespiegelten Mond aus ihren Brunnen zu fischen. Vis-à-vis von diesen lebten die Brittli in Schwändi. Sie wurden dafür gerügt, statt beim Brand von Glarus zu helfen, Fensterläden – sogenannte Brittli – gestohlen zu haben. Die Stadtglarner selbst waren die Waldrappä oder Waldrappäfüdlä, benannt nach dem gleichnamigen schwarzen Vogel, den man mit seinem roten Gesicht und dem langen, krummen Schnabel als durchaus hässlich bezeichnen darf. Solche Gestalten sieht man in Glarus natürlich höchstens noch an der Fasnacht. Alle Gemeinde-Spitznamen sind auf der Webseite des Geschichtenerzählers und ehemaligen Lehrers Fridolin Hauser zu finden – besser bekannt als Osterhazy, da er an Ostern zur Welt kam. Schwieriger ist es, die Bedeutungen der Gemeinde-Übernamen herzuleiten, denn aus der mündlichen Sprache sind sie längst verschwunden. Nur die Bezeichnung «Schwandner Hunghäfä» hat es als einzige ins 21. Jahrhundert geschafft – als Guggenmusik.

Zimmermann, Zeqiri und Pangring

Heute sind wir so mobil und vernetzt, Leute wie Namen kommen und gehen, dass Spitznamen im grossen Stil nicht mehr gebraucht werden. WieSchneeglöckchen zwischen den letzten Schneeresten spriessen, konnten neue Nachnamen gedeihen: In den Top 3 der häufigsten Nachnamen in Mitlödi ist neben Zimmermann und Hefti der kosovarische
Nachname Zeqiri vertreten, in Luchsingen und Hätzingen der tibetanische Nachname Pangring. Da auch viele Eltern heute ihrer Kreativität freien Lauf lassen, wenn es um die Vornamensgebung ihrer Neugeborenen geht, dürfen wir so sagen, kommt langsam etwas Farbe in die Namens-Öde. Und das ist doch wahrlich eine Ode wert.