Sommereis
Im Tal ist es sommerlich warm, in den Badis tummeln sich glacéschleckende Kinder. Weit oben, auf dem Tödi, herrscht am selben Tag eine andere Welt, es ist windig, das Gipfelkreuz trägt Kristalle aus Eis. Glarner Gegensätze.
TEXT UND BILDER Maya Rhyner

4:00 Uhr. Eigentlich möchte man noch schlafen; doch lockt der frische Sommermorgen hinaus in die Dunkelheit. Nach einem guten Frühstück, das der Tageszeit und dem bevorstehenden Marsch wegen eher ein Muss ist, schnallen wir die Stirnlampen an, schnüren die Bergschuhe, kontrollieren noch einmal den gepackten Rucksack. Um dann dem Bergführer zu folgen, hinaus aus der Fridolinshütte SAC auf 2111 Meter über Meer, in ein Dunkel, das weder Weg noch Landschaft zu erkennen gibt.
4:30 Uhr. Das Geräusch vom Gehen auf dem Bergweg begleitet uns bis zum Rauschen des Rötibachs. Im Schein der Stirnlampen erblickt man die Steine, auf denen man den Bach überqueren kann. Die Lichtkegel erhellen da und dort wieder ein Stück Landschaft, so dass sich das Bild der Umgebung langsam vervollständigt. Den steilen Aufstieg zur Grünhornhütte SAC lassen diese wenigen Lichtpunkte nur manchmal kurz aufflackern, man geht einfach, man geht und geht.
5:00 Uhr. Es ist immer noch dunkel, als wir die Grünhornhütte SAC erreichen. Als Erste steht sie da auf dem Weg zum Tödi, als erste SAC-Hütte der Schweiz wurde sie gebaut. Sie begrüsst einen früh am Morgen auf der Tour zum höchsten Glarner, und empfängt einen wieder, nach rund sieben Stunden Auf- und Abstieg. «Aseilä» heisst es nun, unser Bergführer Richi Bolt von der Alpinschule Glarnerland knotet das Seil an unsere «Gstältli», was wohl noch vor uns liegt?
6:30 Uhr. Wir sind schon weit. Schon knirschen die Steigeisenzacken auf dem Sommereis. Der Bifertengletscher zeigt schimmernd seine hellblauen Türme und Zacken, seine Spalten umgehen wir dank sicherer Führung. Mit seinen 2,6 Quadratkilometern Fläche zählt er nach dem Claridenfirn zum zweitgrössten Gletscher im Glarnerland. Eine eindrückliche Szenerie. Mitten im Spätsommer. Schritt für Schritt steigen wir höher, hinter uns die Gelbe Wand, die Armkraft erfordert hatte, denn eine Kette und Eisenbügel führten hier auf eine Felsenpassage. Doch auch das haben wir geschafft, jetzt heisst es nur noch, weiter hinauf, hinauf.
8:00 Uhr. Die ersten hellen Streifen am Horizont sind bereits vorbei. Die Sonne erblickt uns auf dem weiten Weiss. Es ist ein Gehen, ein langsames Gehen im Bergführerschritt, das uns langsam der Klagemauer näher führt. Der letzten steilen Schneewand, die es emporzusteigen gilt, die bald schon aber den Blick auf das Gipfelkreuz freigibt – und dann wissen wir – wir werden es schaffen, da ist er, der höchste Punkt im Tödimassiv, der Piz Russein mit seinen 3614 Metern über Meer. Eine Euphorie schleicht sich zwischen Schnaufen und Gehen in einen, eine Ehrfurcht, eine Genugtuung. Eine urige Freude.

9:00 Uhr. Der Gipfel. Erhaben trotzt das Gipfelkreuz den aufziehen Nebelschwaden, das Wetter hat an ihm seine Spuren hinterlassen. Die Kälte schleicht in unsere nackten Finger, welche die Kamera fürs Gipfelfoto umklammern, es muss sein, als Erinnerung für die Tage im Tal. Eine kurze Rast, ein Innehalten, um dann den Gipfel wieder zu verlassen, abzusteigen in die Sonne, was nur ein Stück weiter unten eine friedliche Pause bedeutet. Essen, Trinken, Geniessen. Der Tödi, er ist eindrücklich.
12:30 Uhr. Milchkaffee in der Hütte, ein Stück Fruchtwähe mit Nidel – wie herrlich ist das! Der Blick von der Steinterrasse vor der Fridolinshütte SAC schweift hinauf zur Kulisse, in der wir empor- und wieder hinabgestiegen sind. Er schweift hinauf zu den eisigen Türmen und Zacken, die wir überwunden haben. Und er schweift alsbald hinab ins grüne Tal, in das wir wieder wandern. Bald im T-Shirt statt in der Daunenjacke, bald in kurzen Hosen statt in Tourenkleidung. Bald sind wir in der Badi in Schwanden, am selben Tag. Beim Eis, beim süssen Sommereis.
Infos zur Alpinschule:
Die Alpinschule Glarnerland führt im Sommer regelmässig auf den Tödi, das Vrenelisgärtli und weitere markante Glarner Gipfel. Mit sicherem Geleit dank einheimischen Bergführern wird das Gipfelerlebnis zum Genuss. Online-Buchungen direkt via www.alpinschule-glarnerland.ch / Weitere Infos via info@alpinschule-glarnerland.ch +41 55 640 3614